von Pfarrer Thomas Gruber.
Der gute Hirt
Amen, amen, ich sage euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen. Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte. Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
Johannes 10, 1-11
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitchristen am heutigen 4. Sonntag in der Osterzeit.
Immer wieder kann man zu diesem Bild des guten Hirten Stimmen hören, die überhaupt nicht begeistert darüber sind, mit „Schafen“ verglichen zu werden. Entmündigend und herabwürdigend wird dieser Vergleich gesehen, nicht den richtigen Maßstäben von Respekt und menschenwürdigem Umgang entspricht das Bild von diesem „Mensch-Tier-Verhältnis“. Als mittelalterliche Anmaßung des Bischofs könnte dieser Vergleich mit dem Hirten (und seinen Schafen) ausgelegt werden. Der einfache Mensch würde in der Glaubensgemeinschaft der Kirche so doch nur als dummes und willenloses Schaf dargestellt!
Liebe Mitchristen, diese Kritik, die immer wieder mal zu hören ist oder unterschwellig in den Köpfen der Leute herumspukt, trifft nicht die Absicht der Bibel und schon gar nicht die Botschaft Jesu Christi. Die Wissenschaft, die sich mit der Heiligen Schrift auseinandersetzt, erklärt zu diesem Bildvergleich, dass hier nur ein Punkt (= Aspekt) des Bildes für den Glauben der Kirche zutrifft und nicht alle Eigenschaften und Eigenheiten in der Beziehung „Hirte-Schaf“. Jesus geht es also gerade heute im Evangelium nicht darum, dass wir Menschen unser Denken vor der Kirchentüre abgeben sollen, damit wir glaubensfähig werden. Ihm ist es absolut kein Anliegen, uns zu entmündigen. Im Gegenteil: Er verwendet wieder mal einen genialen Bildvergleich, um unseren Verstand und unser „Verstehen-wollen“ herauszufordern.
Das Bild des Hirten gilt als Muster für Vertrauen und Verbundenheit. Es geht heute um die Unzertrennlichkeit zwischen Gott und dem Menschen. Dieses Bild versucht, den Graben zwischen Mensch und Gott – von der Seite Gottes aus – zu überwinden.
Im Textzusammenhang des 10. Kapitels bei Johannes redet Jesus hier wieder mit den Juden. Diese kennen zwar das Bild vom Hirten sehr gut; doch Jesus als ihren Hirten wollen und können sie nicht akzeptieren.
Jesus redet für die Juden unverständlich: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30), sagt er. Das bedeutet nicht, dass sich Jesus in Gottvater hinein auflöst. Nein! Die Größe und das besondere Wesen Gottes wird mit diesem Satz herausgestellt. Zwischen Gott-Vater und Jesus, seinem Sohn, besteht ein einmaliges Vertrauensverhältnis. Das ist mit dem Einssein gemeint: Sein göttliches Wesen ist also „Vertrauen und Liebe“.
Diese Verbundenheit, diese Unzertrennlichkeit, dieses Vertrauensverhältnis ist durch Jesus in die Welt gekommen. Mit Jesus schenkt uns Gott seine Zusage, dass das Vertrauen Gottes in die Welt gekommen ist. Als guter Hirte will er der Vertrauensmittelpunkt unserer Seele sein.
Im Alten Testament im Buch Ezechiel und besonders im Pslam 23 betete der gläubige Mensch:
Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen, er führt mich zum Ruheplatz am Wasser, er lässt mich lagern auf grünen Auen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht
Psalm 23, 1-2.4
Dem Menschen wurde schon im Glauben des Alten Testaments das Vertrauen von Gott her gegeben – eben ohne Angst und in Freude mit Gott in „tiefer Schlucht“ zu wandeln, an „grünen Auen“ zu lagern und so richtig aufatmen zu können. Gott als Hirte bewahrt vor Schaden und Lebensgefahr.
Mit Jesus nun wird dieses Vertrauen, das von Gott herkommt, noch gesteigert. Mit Jesus als Glaubenshirten überschreitet der Glaubende alle Brücken und Barrieren, was ein Mensch ohne die Hilfe Gottes nie schaffen würde.
Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?
Römer 8, 35
So schreibt Paulus im Römerbrief und trifft (und versteht) damit den Kern des Satzes Jesu, wenn dieser sagt:
Ich gebe meinen Schafen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen.
Johannes 10,28
Jesus als der Gute Hirte führt uns in „Länder“, die wir ohne ihn niemals erreichen könnten. Er will uns nicht entmündigen, sondern mit dem von Gott geschenkten Vertrauen führt er uns aus der Angst des Todes heraus und lässt uns damit viele Barrieren im Leben schon jetzt überwinden. Letztendlich dient uns dieses Vertrauen auch dazu, die letzte Brücke einmal überschreiten zu können, nämlich die Brücke – über den irdischen Tod hinaus – zum „Ewigen Leben“.
Sein „Hirtenvertrauen“ rettet uns, weil es ohne dieses Vertrauen nicht geht.
Es ist so wie in der dramatischen Geschichte von zwei Kindern, die in einem brennenden Haus um ihr Leben bangen. Der Vater des ersten Kindes stand unten am Fenster und rief beiden Kindern zu: „Habt Vertrauen und kommt in meine Arme!“
Nun, das zweite Kind sah unten nicht seinen Vater, sondern einfach nur einen Mann und konnte somit den Sprung einfach nicht wagen; der Sprung war offensichtlich dem Verstand und seinen gefühlten Angstbarrieren zu gewagt. Das zweite Kind konnte somit nicht gerettet werden.
Das erste Kind jedoch hatte ein besonderes Vertrauen in sich, es sah (und vertraute von Herzen) seinem Vater und sprang schließlich in seine Arme. Dieses Kind wurde gerettet.
Liebe Schwestern und Brüder, vertrauen wir dem „Guten Hirten“, denn er gibt uns heute die Kraft, Barrieren zu überwinden und einst durch das Vertrauen die Rettung zum Ewigen Leben zu erlangen.